Elena Ferrante: Die Geschichte eines neuen Namens

Eine in beiden, beide in einer

Das Cover lässt keinen Zweifel am Verlauf der Ehe, die Raffaella Cerullo, genannt Lina oder Lila, zu Ende des ersten Bandes Meine geniale Freundin der Neapolitanischen Tetralogie von Elena Ferrante eingegangen ist. Der Brautschleier steht horizontal vom Kopf ab, der Wind reißt die Blütenblätter aus dem Brautstrauß.

Nahtlos erzählt Elena Ferrante im zweiten Band Die Geschichte eines neuen Namens die Lebensgeschichten der beiden Freundinnen Lila und Elena, genannt Lenù, aus dem armen Neapolitaner Viertel Rione weiter. Genauer gesagt ist es Lenù, die erzählt, 60 Jahre nach dem Beginn ihrer Freundschaft, als Lila plötzlich verschwindet.

Beide Mädchen sind hochbegabt, doch nur Lenù erhält von ihren Eltern widerwillig die Erlaubnis, die Aufnahmeprüfung zur Mittelschule abzulegen. Lila, die noch Begabtere, muss die Schule verlassen und rettet sich mit 16 Jahren in eine Ehe mit Stefano, einem Salumeria-Besitzer und Verbündeten des Camorra-Clans der Solara-Brüder, die ihr einen gewissen Aufstieg sichert, nicht jedoch das Entkommen aus dem Rione. Bereits während der Hochzeitsfeier kommt es zu einem Eklat, die Hochzeitsnacht verläuft traumatisch und Stefano bedient sich, nicht zuletzt, weil er in keinster Weise mit Lilas Wesen zurechtkommt, der im Rione üblichen Prügel. Lila versucht immer wieder, ihre Situation zu verbessern, indem sie sich für eine Sache  begeistert und sich vollkommen hineinstürzt, verliert aber die Lust, sobald sie sie beherrscht. Die Unterdrückung ihrer geistigen Fähigkeiten führt zu dem, was man seit einigen Jahren als „Boreout-Syndrom“, einem Zustand ausgesprochener Unterforderung, bezeichnet.

Während einer Erholungsreise nach Ischia, wohin Lila, die zum Ärger ihres Mannes nicht schwanger wird, Lenù als bezahlte Angestellte mitnimmt, entdeckt Lila ihre Liebe zu Nino, Lenùs angebetetem Schwarm, und stürzt sich in eine Affäre mit ihm, die sie auch nach der Rückkehr nach Neapel nicht beendet. Lilu, die sich davon eine Wiederherstellung ihres Selbstwertgefühls verspricht, setzt wie immer auf Risiko, nimmt sich, was sie will, hat keine Angst vor Gespött, Prügel und Verachtung und verliert alles, während Lenù mit einem Stipendium in Pisa studiert und im Alter von noch nicht einmal 23 Jahren als Dottoressa und einem Diplom in Philologie mit Bestnote und Auszeichnung, einem Verlobten aus bester Familie mit Aussicht auf eine Universitätskarriere und einem Vertrag für einen Roman zurückkehrt. Nach langer Zeit sehen die beiden sich wieder, nun unter ganz anderen Vorzeichen als vor ihrem Bruch und ihrer langen Trennung.

Zwar bin ich nicht dem Ferrante-Fieber erlegen, aber ich gebe zu, dass ich mich inzwischen zu den Fans dieser vierbändigen Saga zähle und mich jetzt schon auf den nächsten Band in einigen Monaten freue, nicht nur wegen des erneuten Cliffhangers. Ich bin fasziniert von der genauen Schilderung der beiden unterschiedlichen Lebenswege und hatte nie auch nur ansatzweise das Gefühl, der Roman hätte Längen. Beide Schicksale, sowohl Lenùs von unzähligen Selbstzweifeln überschatteter Aufstieg und ihre langsame, aber unaufhaltsame Loslösung aus dem Rione, als auch Lilas verzweifelte Versuche, das Beste aus ihrem Leben zu machen, obwohl man ihr alle Möglichkeiten frühzeitig genommen hat, sind packend erzählt, ebenso wie die Mischung aus Rivalität und inniger Verbundenheit zwischen den beiden Mädchen.

Eine dichte, düstere Milieustudie der 1960er-Jahre in schnörkelloser, distanzierter Sprache und ein großartiger Unterhaltungsroman!

Elena Ferrante: Die Geschichte eines neuen Namens. Suhrkamp 2017
www.suhrkamp.de

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